Von der gesellschaftlichen Moral und deren Auswirkungen
So lautet das 4. Gebot, welches von den meisten Menschen so ausgelegt wird, dass egal, was die Eltern tun oder lassen, die Kinder ihnen Respekt und Gehorsam „schulden“. Sie sind die übergeordnete Instanz, welcher man sich nicht entgegensetzen darf, da dies schändlich ist.
Dieses alte Glaubenskonstrukt von Ethik und Moral sorgt dafür, dass viele Menschen sich ihrem alten Schmerz nicht zuwenden können. Es ist ihnen untersagt, schlecht über die Eltern zu denken, geschweige denn zu reden – also sind sie zum Schweigen verdammt. Jegliche Not, Schrecken und Grausamkeit, welchem dem Kind durch die Eltern respektive Erziehungsberechtigen angetan wird, wird unter dem Mantel der Moral unter den Teppich gekehrt. Selbst im heutigen Zeitalter wird häufig erwartet, dass Kinder und Erwachsene ihren Eltern vergeben, da sie es selbst doch nicht besser wussten. Dadurch wird dem Opfer jegliche Anerkennung seines Leidens abgesprochen. Anstatt man den Eltern die Verantwortung für den Umgang mit ihren Kindern überträgt, erfindet man reihenweise Ausreden/Begründungen für deren Taten. Nach dem Krieg waren es die Traumata des Krieges heute sind es die überabeiteten und dauergestressten Mitglieder unserer Gesellschaft. All diese Auslöser, dürfen keine Entschuldigung für die Täter sein.
Ich möchte hier Alice Miller zitieren, welche mich zu diesem Beitrag inspiriert hat.
„Die elterliche Grausamkeit ist nicht immer durch Schläge gekennzeichnet, sondern auch und vor allem im Mangel an freundlicher Zuwendung, im Mangel an Kommunikation, im Ignorieren der Bedürfnisse des Kindes und dessen seelischer Schmerzen, in sinnlosen, perversen Strafen, im sexuellen Missbrauch, in der Ausbeutung der bedingungslosen Liebe des Kindes, in der emotionalen Erpressung, im Zerstören des Selbstgefühls und in den unzähligen Formen der Machtausübung. Die Liste ist unendlich. Und was das Schlimmste ist: Das Kind muss lernen, all dies als ganz normales Verhalten anzusehen, weil es nichts anderes kennt. Jedes Kind liebt seine Eltern bedingungslos, was auch immer sie mit ihm machen. –
(Miller, Alice. Die Revolte des Körpers (German Edition) (S.200). Suhrkamp Verlag.)
Das Wort der Vergebung wird oft als Lösung für das gestörte Verhältnis der Kinder zu den Eltern angeboten. Was dazu führt, dass die Kinder die Verantwortung für die Taten der Eltern übernehmen. „Sie konnten es halt nicht besser“, „Sie haben es selbst nicht anders gelernt“, „Sie haben ihr Bestes gegeben“. Doch all diese Bemühungen helfen nicht dabei die Wunden, welche den Betroffenen angetan wurden, zu heilen.
Der Schmerz und alle damit verbunden Gefühl möchten anerkannt, angenommen und gefühlt werden. Gedanken der Wut, des Hasses, der Verachtung seinen eigenen Eltern gegenüber möchten gehört und respektviert werden. Und unwahre Gefühle von Liebe und Dankbarkeit den eigenen Eltern gegenüber dürfen abgelegt werden. Alle Gefühle die tatsächlich sind, führen uns in die Freiheit. Die grosse Last der Anpassung an das System und an das Konstrukt der Moral können losgelassen werden und machen den Weg frei zur Heilung unseres Selbst.
Um das geschriebene zu verdeutlichen ein paar Beispiel:
Marcel wurde von seiner Mutter missbraucht. Seine Oma meinte zu ihm, er solle es der Mutter nicht nachtragen, sie wurde schließlich selbst vom Vater missbraucht. "Denke an das 4. Gebot." Rechtfertig somit der Missbrauch, welche an der Mutter begangen wurde, den Missbrauch am eigenen Sohn? Glaubst du, dass Wissen darüber macht für Marcel einen Unterschied? Wird sein Schmerz dadurch gemildert oder wird er dazu genötigt seine ihn quälende Mutter auch noch in Schutz zu nehmen?
Rita wurde von ihrem Vater als Kind regelmäßig verprügelt. Jede Unachtsamkeit, jedes „falsche“ Wort wurde mit Schlägen bestraft. Hilft es Rita zu wissen, dass ihr Vater vom gewalttätigen Großvater, welcher im Krieg war, ebenfalls geschlagen und gedemütigt wurde? Soll sie deshalb Milde walten lassen und ihren Schmerz weiterhin verleugnen, um ihn zu verschonen?
Zu den in unserer Kindheit unterdrückten respektive verdrängten oder abgespaltenen Emotionen, die in unseren Körperzellen gespeichert sind, gehört vor allem die Angst. Ein geschlagenes Kind muss ständig Angst vor neuen Schlägen haben, aber es kann nicht mit dem Wissen leben, dass seine eigenen Eltern ihm diese Schmerzen zuführen. Es muss dieses Wissen verdrängen. Ähnlich kann ein vernachlässigtes Kind seinen Schmerz nicht bewusst erleben, geschweige denn ihn ausdrücken, aus Furcht verlassen zu werden und aus der Folge daran zu sterben. Also verharrt es in einer irrealen, geschönten, illusionären Welt. Das hilft ihm zu überleben.
Nur die Annahme der eigenen Gefühle und die Äußerung der eigenen Bedürfnisse ohne jeglichen Filter der Moral und des Anstands führen in Richtung Heilung, Selbstannahme und Selbstliebe. Inzwischen gibt es viele Berichte, in denen Mütter wie Väter ehrlich erzählen, wie sehr sie durch die Verletzungen in ihrer eigenen Kindheit daran gehindert waren, ihr Kind zu lieben. Wir können daraus lernen und aufhören, unentwegt weiter die Elternliebe zu idealisieren. Ich persönlich bin von dem Modell des Internen Familiensystems überzeugt, welches darlegt, dass wir alle unterschiedliche Anteile in uns tragen. Wir alle haben liebevolle und mitfühlende Anteile wie auch wütende, ängstliche und beschämende, ... Anteile. Alle Anteile sind Teil von uns und alle Anteile dürfen sein. Was dazu führt, dass wir neben des Schmerzen, der Wut und des Hasses auf unsere Eltern auch Anteile haben dürfen, welche die Eltern lieben. Ich werde in einem der folgenden Artikel näher auf das System eingehen.
Die ausgesprochene Wahrheit, dass aufdecken des Verborgenen führt zur Reinigung der Wunden und zu einer möglichen Akzeptanz des Geschehenen, ohne mit der Vergangenheit verhaftet zu sein. Die Vorstellung, man müsse seinen Eltern bis zum eigenen Tod mit Ehr-Furcht begegnen, besteht zum einen aus der (destruktiven) Bindung des einst misshandelten Kindes an seine Peiniger und zweitens aus der Moral, mit der Drohung aus der Gemeinschaft verstoßen zu werden, wenn wir unsere Eltern nicht ehren.
Wir dürfen aufhören, seelische und körperliche Misshandlungen an Kindern klein zu reden. Wir verstecken uns als Erwachsene meist hinter Bagatellisierungen, Kleinreden und Zynismus, anstatt die Gefühle der Erniedrigung, Demütigung und des Schmerzes zuzulassen. Das Kleinreden führt dazu, das zum Schmerz und der Angst der Opfer sich auch noch die Scham über das eigene Unvermögen stülpt.
Die alten Wunden können erst vernarben, wenn Betroffene sich dafür entscheiden, den Weg der Heilung zu gehen. Das erlebte radikal akzeptieren und die Gefühle und Bedürfnisse in ihrer ganzen Intensität annehmen. Sich selbst den nötigen Respekt entgegenbringen und die Hoffnung und Erwartungen des kleinen Kindes aufgeben, dass die Eltern sich doch eines Tages ändern werden. Die Eltern ändern sich nicht dadurch das das Opfer die Taten entschuldigt und kleinredet. Nur sie selbst können sich verändern, wenn sie das möchten.
Haben wir einmal gelernt, unsere Gefühle authentisch zum Ausdruck zu bringen, zu leben und diese zu fühlen, anstatt sie zu bekämpfen, sehen wir in den Signalen, welche unser Körper uns sendet, keine Bedrohung mehr, sondern sind ihm dankbar dafür, dass er uns auf unbewusste Missstände aufmerksam macht. Solange die aus den Verletzungen entstandenen Schmerzen verleugnet werden, zahlen wir dafür mit unserer eigenen Gesundheit oder mit der Gesundheit der eigenen Kinder, da man die nicht gefühlten Gefühle und die nicht zum Ausdruck gebrachten Bedürfnisse auf seine Kinder bewusst oder unbewusst überträgt.
Manchmal ist es nötig unsere Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse über die gesellschaftliche Moral zu stellen. Wir dienen damit nicht nur uns, sondern unseren nachfolgenden Generationen und wenn auch häufig unbewusst unserer Gesellschaft.
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